Arbeitswelt Stahl - Feinarbeit

Ulrich Grethe weiß, wie man zehn Kilo Titan in 210 Tonnen Stahl verteilt. 'Von unserer Sorte gibt es fünf, sechs Leute in Deutschland', sagt Ulrich Grethe. Er ist für die gesamte Stahlproduktion im Werk Salzgitter verantwortlich. Und es braucht schon ein Höchstmaß an Perfektion, um das High-Tech-Produkt Stahl so herzustellen, wie es große Auftraggeber z.B. aus der Automobil- und Schiffbauindustrie verlangen.

'Können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist, zehn Kilogramm Titan in 210 Tonnen flüssigem Stahl absolut gleichmäßig zu verteilen?' Nein, der Normalbürger kann sich kaum vorstellen, mit welcher Perfektion in den riesigen Hallen des Stahlwerkes gearbeitet wird. 540 Tonnen Stahl werden im Stahlwerk pro Stunde hergestellt und veredelt. 12.000 bis 13.000 Tonnen pro Tag. Eigentlich unvorstellbare Mengen. Dabei ist Stahl nicht gleich Stahl: Das Werk Salzgitter produziert jeden Tag 10 bis 20 verschiedene Sorten mit völlig unterschiedlichen Eigenschaften. Diagramme, Vorgaben, Tabellen und Grafiken: Die Computer im Steuerzentrum des Stahlwerkes könnten auch in einem Forschungslabor stehen – würde nicht durch die Scheiben das faszinierende Schauspiel Funken sprühenden Stahls zu sehen sein. Doch für die Schönheit der Stahlproduktion dürfen die Mitarbeiter keine Augen haben. Sie steuern einen hochkomplizierten Produktionsprozess.

'Nachdem aus Erz Roheisen gewonnen wurde, fängt unsere Arbeit an, daraus ein technologisches Spitzenprodukt zu machen', beschreibt Grethe. In großen Pfannen wird dem flüssigen Roheisen durch Zugabe verschiedener Stoffe der Schwefel entzogen. Später im Konverter werden weitere unerwünschte Elemente entfernt, um reines Eisen zu gewinnen. Schon hier könnten unerwünschte Verunreinigungen die Qualität zunichte machen.

Im dritten Arbeitsschritt, der Sekundärmetallurgie, muss Grethe mit seinem Team von 720 Leuten ein Meisterwerk vollbringen. Denn erst die Zugabe kleinster Mengen verschiedener Zutaten wie Titan, Chrom und Mangan geben dem Stahl die Eigenschaften, von denen Grethes Vorgänger nur träumen konnten. Hochfest und deshalb bei gleicher Leistung um ein Vielfaches leichter als frühere Stahlsorten. 'Stellen Sie sich vor: Der Pariser Eiffelturm wiegt 8.000 Tonnen. Würde man ihn mit unserem modernen, hochfesten Stahl noch einmal bauen, brächte er nur noch 2.500 Tonnen auf die Waage und wäre genauso stabil.' 'Wir machen heute Stahltechnologie. Früher hat man einfache Aggregate über Drucktasten, Knebelschalter und Schwenkhebel bedient. Mit solchen Anlagen würde man die modernen, hochleistungsfähigen Stahlsorten gar nicht mehr produzieren können', erklärt Grethe. 'Es wäre unmöglich, Zugaben von wenigen Kilos auf 210 Tonnen Stahl gleichmäßig zu verteilen.' Bereits geringste Mengen mehr oder weniger verändern die Qualität des Stahls erheblich. Schon mit 27, direkt nach dem Studium der Metallurgie und Werkstoffwissenschaft an der TU Clausthal, wurde er Betriebsassistent an der Roheisenentschwefelung und durfte erste Organisationsaufgaben lösen. Vier Jahre später wurde er Betriebsleiter der Anlage – und erhielt zudem die Verantwortung für die Konverter. Und er musste eine Bewährungsprobe bestehen. 'Ich hatte die Aufgabe, drei Millionen Mark für eine neue Automatisierung zu investieren.' Festlegen, welche Bedingungen die Anlage erfüllen muss, ausschreiben, Angebote und Anbieter einschätzen, schließlich die Planung in die Realität umsetzen. Eine Aufgabe, die Grethe heute in ganz anderer Dimension alle zwei bis drei Jahre lösen muss. 1996 wurde dem damals 35-Jährigen auch die Sekundärmetallurgie zugeordnet, bevor er im Juli 2000 mit der Verantwortung für die Stranggussanlagen zum Betriebsdirektor des gesamten Stahlwerkes wurde – mit erst 39 Jahren.

'Junge Leute bekommen bei Salzgitter die Chance, früh Verantwortung zu übernehmen und ihre Qualitäten zu beweisen.' Auch weil die alten Hierarchien in der Stahlindustrie längst Vergangenheit sind. 'Bei uns wird man nach absoluten Ergebnissen gemessen. Es geht darum, Prozesse so effizient wie möglich zu organisieren.' Eine Daueraufgabe. Es vergehen oft nur zwei Jahre, bis die Anlage wieder umgestellt wird, um erhöhte Produktqualität und neue Produktionsverfahren zu realisieren. Eine Herausforderung, die Ulrich Grethe heute genauso fasziniert wie am ersten Tag, als er als Werksstudent bei Thyssen zum ersten Mal einen Hochofenabstich erlebte. 'Diese Urgewalten faszinieren mich bis heute.' Und da ist Grethe nicht der Einzige. Seinem Sohn hat er seinen Arbeitsplatz auch schon gezeigt. Dem 17-Jährigen ging es wie seinem Vater – er war einfach nur begeistert!