Page 9 - STIL 3 2024
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Welche Szenen zeigt ein Film, in dem plötzlich aller Stahl aus der Welt verschwindet? Es flüchten darin Angestellte aus ihren Büros. Denn was hält den Büro- stuhl und den Schreibtisch zusammen und heftet die Papierstapel? Eben! Fassaden bröckeln, weil sie ohne Stahlträger und Armierungen die Last nicht mehr tra- gen können. Frauen könnten stürzen, weil die Stahl- verstärkungen in hohen Absätzen fehlen. Den Musi- kern eines Orchesters zerbröseln die Instrumente in ihren Händen, und alle Verkehrsmittel lösen sich auf. Ohne Nieten und Gürtel rutscht die Jeans, und ohne Brille wird die Welt unscharf. Am Ende irren die Men- schen verstört durch eine Trümmerlandschaft. Ein solcher Streifen über eine Welt ohne Stahl ist ein apo- kalyptischer Horrorfilm.
Das wahre Ausmaß des Horrors vermag kein Film zu zeigen: Denn nicht nur die im Alltag sichtbaren Dinge aus Stahl halten unser Dasein zusammen. Auch viele andere Güter gäbe es ohne den Werkstoff, wenn über- haupt, nicht in gewohnter Menge und Qualität. Stahl ist für die Herstellung, Lagerung und den Transport vieler Erzeugnisse unverzichtbar. Wie werden unsere Le- bensmittel, Kleidung und andere Verbrauchsgüter produziert? Mit Maschinen und Geräten aus Stahl. Wie werden sie transportiert? In Zügen, Schiffen und Lkw. „So können auch Produkte, die selbst keinen Stahl ent- halten, ‚stahlintensiv‘ sein“, ist in einer Fraunhofer- Studie zur Bedeutung von Stahl im Alltag zu lesen.
Vielleicht könnte man vieles auch ohne Stahl herstel- len, bevorraten und vom Erzeuger zum Verbraucher fahren. Aber wie? Mit Produktions- und Transportmit- teln aus Holz? Mit einer Schar schlecht bezahlter Lohn- arbeiter und Pferden vor Kutschen? Geht auch nicht, weil es diese Arbeitskräfte nicht gibt und keine Kut- sche ohne Eisen rollt. Und selbst wenn: Die Produkti- onskosten und folglich die Preise wären so hoch, dass die Produkte und viele Dienstleistungen unerschwing- lich wären.
Aber vielleicht könnte man den Stahl durch andere Ma- terialien ersetzen! Aber durch welche? Andere Metalle wie Aluminium? Nein, davon gibt es erstens nicht genug, zweitens wäre das unbezahlbar. Kunst- und Verbundstoffe? Das wäre eine riesige Umweltsünde, schließlich ist Stahl Recyclingweltmeister, kann belie- big oft ohne Qualitätsverlust wiederverwendet werden – und wird es auch. Abgesehen davon: Pressmaschi- nen und Werkzeuge aus Plastik? Unvorstellbar. Stein? Unter Umständen könnte man damit, wenn es auch sehr aufwendig wäre, Brücken bauen. Aber die Stein- zeit haben wir vor 10.000 Jahren abgeschafft, dahin will niemand zurück.
Apropos Geschichte: Stahl war der entscheidende Werkstoff der industriellen Revolution. Und was hat die Menschheit in den vergangenen 150 Jahren für Fortschritte erlebt! Kein Zweifel: Ein Leben ohne Stahl ist möglich, aber sinnlos. Also leben wir mit Stahl – und wir leben sehr gut damit.
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