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Page 14 - STIL 2 2021
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 Ein Mannesmannrohr aus den frühen experimen- tellen Tagen. Die Rohrwand war noch extrem ungleich- mäßig und dick
aber noch viele Wünsche offen. So waren zum Beispiel die damaligen geschweißten und gegos- senen Stahlrohre Erfordernissen der Industrie oft nicht gewachsen: Gussrohre waren unbiegsam, und die in den Fabriken laufenden Dampfmaschi- nen arbeiteten mit einem so hohen Druck, dass längsgeschweißte Stahlrohre immer wieder platz- ten. Die Nähte hielten den Kräften der Maschinen oft nicht stand, immer wieder geschahen Unfälle.
Gefragt war ein Verfahren zur Herstellung sta- biler Rohre ohne Naht – und die Brüder Man-
nesmann erfanden es. Reinhard Mannesmann hatte sich schon während des Studiums mit der Umwandlung von Eisen zu Stahl befasst. Seine Abschlussarbeit 1877 an der Bergakademie für
die hüttenmännische Prüfung trug den Titel „Das Verhalten des reinen Kohlenstoffes
zum reinen Eisen bei steigender Temperatur“. Er wies darin
nach, dass im Hochofen oder Tiegel der Kohlenstoff durch Molekularwanderung in das
Eisen eindringt. Basierend auf diesen Erkenntnissen, erfand
er ein Verfahren zur Herstellung von Verbundstahl, der außen hart, aber
innen zäh und weich ist, und ließ sich dieses patentieren.
Nächtliche Experimente
Oft lieferte Reinhard Mannesmann eine zün- dende Idee, die Max in eine konstruktive Lösung umsetzte. Ob dies auch bei ihrer bedeutendsten Erfindung für die Produktion nahtloser Rohre
so war, ist nicht überliefert. Allerdings hielt Max Mannesmann in seinem Erfindertagebuch fest, wie die beiden Brüder zwei Jahre lang an dem neuen Verfahren arbeiteten. Da die Dampfmaschinen tagsüber für die Feilenproduktion benötigt wur- den, konnten Reinhard und Max meist nur nachts experimentierten. Unterstützt wurden sie dabei von ihren jüngeren Brüdern Alfred (1859–1944) und Carl (1861–1950) sowie der ganzen Familie.
Beim Walzen des Vormaterials für die Feilen- herstellung war ihnen ein „Fehler“ aufgefallen: Schräg stehende Walzen lockerten den Kern eines Stahlblocks und rissen ihn im Inneren sogar auf. Nach vielen Versuchen gelang es, allein durch Wal- zen aus einem einzigen massiven Stahlblock einen dickwandigen Hohlkörper herzustellen. Um das Innere kontrollierter auszuhöhlen, ließen sie zwei schräg angeordnete Walzen den 1.200 bis 1.300 °C heißen Stahlblock über einen Dorn treiben, der den Hohlraum gleichmäßig ausformte.
Mit dem Schrägwalzen über einen Dorn hatten die Brüder ein neues Produktionsverfahren erfun- den, das sie schon 1885 zum Patent anmeldeten und das seitdem immer weiter verfeinert wurde. Max Mannesmann selbst ließ sich noch mindes- tens zwölf weitere Verbesserungen für die Anlagen patentieren, die sowohl die Walzen als auch den Stahl während des Prozesses schonten.
Die neuen Stahlrohre entwickelten sich zu einem wirtschaftlichen Erfolg. Aufgrund der viel- versprechenden Perspektiven verließen Reinhard Mannesmann senior und seine Söhne 1887 das Familienunternehmen A. Mannesmann und grün- deten die Mannesmannröhren-Werke.
Bis 1889 entstanden vier Werke in Deutschland, Wales und Österreich, die 1890 in einem Unter- nehmen mit Sitz in Berlin zusammengeschlossen wurden: den Deutsch-Österreichischen Mannes- mannröhren-Werken. Allerdings waren die ersten produzierten nahtlosen Stahlrohre noch recht kurz und ihre Wände dick und uneben. Erst durch eine weitere bahnbrechende Erfindung gelang es Max Mannesmann 1890, längere und gleichmäßigere Rohre mit unterschiedlichen Durchmessern zu fertigen: das Pilgerschrittverfahren – benannt nach dem Pilgerschritt in der „Echternacher Springpro- zession“, der zwei Schritte vor mit einem Schritt zurück kombiniert. Dieses Verfahren verringerte obendrein die Produktionskosten, was die neuarti- gen Rohre erst marktfähig machte.
Im Pilgerwalzwerk wird das durch Schrägwalzen vorgefertigte Rohr von zwei entgegengesetzt rotie- renden und besonders geformten Walzen erneut über einen Dorn hin- und hergeschoben und dabei gedreht, wodurch die Rohrwand immer dünner und gleichmäßiger wird. Durch das Pilgerschritt- verfahren gelang es Max und Reinhard Mannes- mann, nahtlose Rohre herzustellen, die weit grö- ßeren Drücken standhielten als die geschweißten Vorgänger. Zudem ließen sich die nahtlosen Rohre biegen und gut aneinanderschweißen – unver- zichtbare Voraussetzung für den Bau jeder Pipe- line. Schon im Jahr der Unternehmensgründung wurde im Kaukasus mit Mannesmannröhren die weltweit erste Öldruckleitung verlegt. Später ver- besserten die Mannesmannröhren-Werke überdies das Schweißverfahren für die Nähte derart, dass Pipelines auch aus geschweißten Rohren errichtet werden konnten.
Boom durch Mannesmannröhren
Die nahtlosen Rohre der 1890er-Jahre boten Fabrikanten neue Verwendungsmöglichkeiten:
Sie bestellten Metallrohre für Wasserver- sorgungsanlagen, Möbel, Licht- und Leitungs- masten, den Maschinenbau – und Fahrräder: Die ab 1893 in großen Mengen und perfekter Qualität gelieferten Fahrradrohre passten in die Zeit des ab 1895 beginnenden Fahrrad-Booms.
Die Erfindung des Schräg- und Pilgerwalzens durch Max und Reinhard Mannesmann war folglich eine Pionierleistung, die viele weitere technische Entwicklungen in Gang setzte. Das Schrägwalzen und die Kombination der beiden Walzprozesse wird bis heute in der Industrie an- gewendet und trägt noch immer den Namen ihrer beiden Erfinder: das „Mannesmann-Verfahren“. Es steht auch in der Gegenwart wie der Name Mannesmann selbst weltweit für Stahlrohre von höchster Qualität.
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Foto: Udo Bojahr











































































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