Zu Besuch bei Germanwatch

25.04.2023 | Salzgitter AG


Was das Ziel betrifft, sind sich Christoph Bals, Geschäftsführer der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch, und Gunnar Groebler, CEO der Salzgitter AG, weitgehend einig. Auch über den Weg? Ein Auszug aus einem Gespräch, das im Januar 2023 in Bonn stattgefunden hat, über die Rolle der deutschen Grundstoffindustrie, politische Rahmenbedingungen, Lieferketten und grüne Leitmärkte.

Die Rolle der deutschen Grundstoffindustrie und gemeinsame Ziele

Christoph Bals: Wir sind nach wie vor das Land mit der größten Grundstoffindustrie in Europa. Sie hat maßgeblich zu unserem Wohlstand beigetragen, auch wenn wir ihre zum Teil fatale Geschichte im Nationalsozialismus nicht vergessen dürfen. Heute müssen wir zeigen, dass Deutschland diese Industrie transformieren kann. Dies ist zentral für die Zukunft unseres Wohlstandsmodells. Zugleich ist es ein wichtiges Signal, vor allem für die Schwellenländer, die in diesem Bereich noch viel dynamischere Märkte haben, dass der notwendige Wandel auch in diesen Branchen gelingen kann.

Gunnar Groebler: Sie sehen die Grundstoffindustrie also auch weiter in Deutschland?

CB: Zumindest wichtige Teile. Eine transformierte Grundstoffindustrie, zusammen mit einer breiten Zulieferkette, dient auch der Resilienzbildung angesichts geopolitischer Herausforderungen. Für manche Bereiche, die Ammoniak-Produktion etwa, wird es angesichts hoher Gaspreise und der absehbaren Preise für Wasserstoff vermutlich nicht mehr sinnvoll sein. In manchen Branchen gibt es energieintensive Vorprodukte, die sinnvoller in sonnen und windreichen Ländern hergestellt werden könnten. Deren Schiffstransport ist leichter als der von Wasserstoff.

GG: Verfolgen Sie, was wir machen?

CB: Natürlich, die Salzgitter AG ist immerhin einer der fünf größten europäischen Stahlkonzerne. Durch die Ankündigung auf der Hannover Messe 2018, in der CO2-Reduktion innovative Wege zu gehen, sind Sie für uns noch spannender geworden. Genau das haben wir uns gewünscht. Wir sind zur Transformation mit Unternehmen aus verschiedenen Branchen im Dialog, auch, um zu prüfen, welche Rahmensetzung notwendig ist. Dazu sprechen wir täglich mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Politik. Wir wollen eine Wirtschaft in Europa, die weder die Menschenrechte noch die Lebensgrundlagen in der Welt unterminiert. Ihr Ziel, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren und die Treibhausgase zu neutralisieren, geht zumindest tendenziell in diese Richtung.

GG: Die Zeit ist reif, nun größere Schritte zu machen. Wir sehen diese Bereitschaft bei unseren Mitarbeitenden und auch bei der Mitbestimmung. In den letzten fünf bis sieben Jahren hat sich in Gesellschaft, Politik, aber auch in der Wirtschaft die Einstellung zur Transformation verändert. Ich bin froh und dankbar, dass wir das technische Konzept haben, dies hat uns in die Lage versetzt, Taktgeber und später Role Model der Transformation zu sein. Wir müssen Industrie neu denken.

»Wir haben großes Interesse daran zu zeigen, welche Teile der Industrie es ernst meinen mit der Transformation.«

Christoph Bals, Geschäftsführer Germanwatch

Die Lieferkettensorgfaltspflicht und der Einfluss auf die Frage der Menschenrechte

GG: Wir schauen uns sehr genau an, wo unsere Vorprodukte herkommen und wo unsere Produkte hingehen. In Europa ist unser Einfluss groß, aber im globalen Kontext sind wir eher klein. Damit haben wir einen relativ kurzen Hebel gegenüber unseren Vorlieferanten, die teilweise deutlich größer sind als wir selbst.

CB: Wir glauben, dass solche Gesetze, wie wir sie in Deutschland haben und auf europäischer Ebene gerade verhandelt werden, die Marktmacht Europas stärken und helfen, in der Welt den Druck auf die Einhaltung der Menschenrechte und auf die Klimapolitik zu erhöhen.

GG: Ja, aber wir müssen eine Systematik finden, die nicht zu einer bürokratischen Abarbeitung wird. Die Energie für den Aufwand bei der Umsetzung des Lieferkettengesetzes wäre besser investiert in die Arbeit vor Ort. Außerdem sollten wir zumindest vorsichtig sein, anderen Ländern und Kulturen unseren Wertekanon überzustülpen und stattdessen die Souveränität des einzelnen Staates berücksichtigen. Wenn andere über Europa sprechen, verweisen wir ja auch auf unser Wertegerüst.

CB: Die Menschenrechte sind von fast allen Staaten ratifiziert. Es gibt zwar einen gewissen Interpretationsspielraum. Aber zum Beispiel bei Kinderarbeit oder den Grundnormen im Umgang mit Beschäftigten, muss das weltweit akzeptierte Recht umgesetzt werden. Das kann man autoritären Staaten nicht durchgehen lassen.

GG: Da bin ich bei Ihnen. Ich glaube aber, man kann der Industrie nicht alle Verantwortung übergeben und sie verpflichten, etwa die Einhaltung auch vor Ort sicherzustellen. Das können wir nicht leisten.

CB: Ja und nein. Wie man mit Menschen umgeht, die man einstellt, oder ob man sie oder andere dadurch schädigt, dass Abfall oder Giftstoffe in Flüssen entsorgt werden – das ist in der eigenen Lieferkette der Verantwortungsbereich der Unternehmen. Natürlich soll kein Unternehmen in der Pflicht sein, eine autoritäre Regierung zu bekehren. Menschenrechte richten sich zuerst mal an die nationalen Staaten.

Der Bedarf an erneuerbaren Energien

CB: Wir sind Gründungsmitglied der Renewables Grid Initiative, einem Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Netzbetreibern. Sie beschäftigt sich mit der Frage, welches Stromnetz wir brauchen, um 100 % Strom aus erneuerbaren Energien zu garantieren. Die gute Nachricht: Theoretisch sind bis zu 95 % bereits heute möglich. Die Pläne gibt es jedenfalls. Im Bereich des ostdeutschen Übertragungsnetzbetreibers 50Hertz Transmission liegen wir schon bei 80 %. Die Fluktuationen aufgrund von Wind- oder Sonnenmangel lassen sich beherrschen.

GG: Netzseitig nicht, aber was ist mit der Erzeugung?

CB: Selbst die drei bis vier Wochen Dunkelflaute im Jahr könnten über Speicher, nachfrageorientierte Lösungen und etwa durch den Netzausbau aufgefangen werden. An der Atlantik- oder Nordseeküste bläst fast immer Wind, das korreliert sehr gut, man muss ihn nur transportieren. Außerdem optimieren immer mehr Unternehmen ihr Nachfragemanagement. Sie beginnen, zumindest teilweise, als Händler zu agieren. Reparaturen werden in Monate mit Dunkelflauten verlegt und möglicherweise sogar kurzfristig die Produktion gedrosselt. Ihren Strom aus den Langfristverträgen verkaufen sie weiter. Für das, was noch aufgefangen werden muss, ist im Moment Gas die Lösung, später Wasserstoff.

GG: Wenn wir weiter dekarbonisieren, werden wir dennoch deutlich mehr erneuerbaren Strom brauchen, als wir heute erzeugen. Das klappt nur, wenn wir erneuerbare Energien hinzubauen. Voraussetzung dafür ist, dass wir uns technologisch weiterentwickeln und neben der bestehenden Offshore-Wind-Technologie auch Floating-Offshore-Wind zur Industriereife bekommen. Das erschließt uns Potenziale im Mittelmeer und im Atlantik. Dort funktioniert nur Floating, weil das Wasser zu tief ist. Konkret meine ich die Finanzierung von Offshore-Windanlagen, aber vor allem die Genehmigungsverfahren. Wir können nicht zehn Jahre auf eine Genehmigung warten und weitere sieben Jahre, bis ein Windpark das erste Mal Strom liefert.

Gemeinsame Transformationsziele

CB: Ich setze zwischen Schwerindustrie und Umweltverbänden auf Kooperation. Ich habe oft erlebt, dass man mit ungewöhnlichen Bündnissen zwischen Wirtschaft und Umweltverbänden, vielleicht noch zusammen mit Gewerkschaften, mehr erreichen kann als mit Konfrontation. Eine solche Allianz könnte den Ausbau von erneuerbaren Energien deutlich beschleunigen. First Mover, die frühzeitig ins Risiko gehen, sollten wir honorieren. Und zugleich deutlich machen, dass die, die erst spät folgen, mit immer weniger Unterstützung rechnen können.

GG: Da stimme ich Ihnen zu. Es wird auch eine gemeinsame Aufgabe sein, die Bevölkerung einzubinden, denn da entsteht meistens die Verzögerung. Es herrscht zwar Einigkeit, dass erneuerbare Energien ausgebaut werden müssen, aber niemand will das Windrad bei sich stehen haben. Hier müssen wir gemeinsam agieren.

CB: Im Rahmen der Renewables Grid Initiative begleiten wir einige der großen Netzbauten in Deutschland. Bei Akzeptanzproblemen treffen sich meine Leute mit Bürgerinitiativen, um gemeinsam zu klären, was echte und was Scheinprobleme sind. Diesen Ansatz verfolgen wir auch bei naturschutzfachlichen Belangen, die der Netzausbau mit sich bringt. Manchmal lässt sich mit neuen Konzepten die Biodiversität sogar verbessern. Wir befinden uns dazu mit vielen Umweltverbänden im intensiven, manchmal zunächst auch kontroversen Dialog.

»Wir können nicht zehn Jahre auf einen Offshore-Windpark warten und weitere sieben Jahre, bis er das erste Mal Strom liefert.«

Gunnar Groebler, Vorstandsvorsitzender der Salzgitter AG

Der Wunsch nach einem differenzierten Blick

CB: Vor allem der jungen Generation brennt das Klimathema existenziell unter den Nägeln. Einige der Kipppunkte des Klimasystems haben wir bereits überschritten, in der Westantarktis und in Grönland etwa. Den Temperaturanstieg können wir noch eindämmen, aber dass der Meeresspiegel eine ganze Reihe von Metern steigt, ist nicht mehr zu stoppen, sondern nur zu verlangsamen. Ich habe daher Verständnis für die Proteste vieler junger Menschen. Ich würde mir allerdings wünschen, dass sie dieselbe Energie, mit der sie beispielsweise zuletzt in Lützerath aufbegehrt haben, auch für die Beschleunigung zukunftsorientierter Lösungen einsetzen. Wenn es uns gelingt, dass diese Dynamik den Aufbruch in die Zukunft unterstützt, die die alten Strukturen ersetzen soll, können wir eine Menge positive Bewegung erzeugen.

GG: Es wäre schön, wenn wir dann noch erreichen, dass die Industrie nicht als Monolith gesehen, sondern anerkannt wird, dass sie sich auf den Weg gemacht hat. Dass das aus Sicht der Kritiker nicht schnell und nicht radikal genug ist, damit muss ich leben. Ich folge technischen und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die nicht unbegrenzt verschiebbar sind. Ich kann eine Direktreduktionsanlage nicht schneller als in drei Jahren aufbauen. Es geht technisch einfach nicht. Aufklärung und Unterstützung würden helfen, die Pauschalverurteilungen zu entkräften. Wir brauchen mehr Verständnis für ganz praktische Gesetzmäßigkeiten. Es hilft nichts, wenn wir Stahlwerke in Deutschland abstellen und den Stahl importieren – womöglich mit höherem CO2-Footprint.

CB: Wir haben großes Interesse daran zu zeigen, welche Teile der Industrie es ernst meinen mit der Transformation. Da schaden uns umgekehrt bisher auch die Versuche einiger Akteure, Greenwashing zu betreiben. Deshalb begrüßen wir die neuen Berichtspflichten. Endlich existieren belastbare Prüfkriterien.

GG: Wir sind der Science Based Targets Initiative beigetreten, die nach wissenschaftlichen Kriterien die Maßnahmen auch kontrolliert. Die EU Taxonomie ist hingegen ein bürokratisches Monster.

CB: Das sehe ich anders. Bei der Einführung von Berichtspflichten müssen sich Unternehmen immer erst mal daran gewöhnen. Bisher gab es viele unterschiedliche Berichtsformate. Die Taxonomie lichtet den Dschungel. Sie hilft auch dem Mittelstand, wo viele sich das erste Mal mühsam mit dem Thema auseinandersetzen müssen, und schafft eine Transparenz, die wir früher nicht hatten. Vorreiter werden sichtbar. Die einheitlichen Standards führen erstmals zu einer Vergleichbarkeit.

GG: Unsere aktuellen Bemühungen spiegelt sie aber nicht wider. Wie viel Geld wir in die Transformation stecken etwa. Im aktuellen Geschäftsbericht können wir nur einen taxonomiekonformen Umsatz im einstelligen Prozentbereich vermelden. Das wird sich auch erst 2026 ändern.

CB: Es ist tatsächlich ein Problem, dass der transformative Teil in der Taxonomie noch fehlt. Ich bin Mitglied im Sustainable-Finance Beirat und wir arbeiten gerade an einem Vorschlag, das zu ändern.

Helfen grüne Leitmärkte, das Geschäftsmodell abzusichern?

GG: Unsere Kunden kaufen heute schon CO2-reduzierten Stahl. Und wir vereinbaren mit ihnen bereits Lieferungen ab 2026, wenn wir Stufe 1 unseres SALCOS® Programms umgesetzt haben. Glauben Sie wie wir, dass es sinnvoll sein kann, über die Politik Anreize zu schaffen oder Quoten festzulegen, um solche grünen Leitmärkte auch auf der Nachfrageseite zu etablieren und damit die Transformation auf einer marktwirtschaftlichen Ebene zusätzlich zu beschleunigen?

CB: Ich halte viel von der Idee grüner Leitmärkte. Dazu müsste man genau definieren, was gefördert werden soll. Was sind ambitionierte und realisierbare, klar definierte Meilensteine der Sektoren auf dem Weg zu grünem Wasserstoff, grünem Strom und letztendlich grünem Stahl? Zumindest auf europäischer Ebene sollte man diese Zertifizierungen hinbekommen, um Wettbewerbsnachteile ausgleichen zu können. Grüne Leitmärkte, die sich am 1.5 °C-Limit orientieren, könnten auch in dem von Olaf Scholz angeregten weltweiten Klimaclub im Fokus stehen. Es muss definiert werden, was für die Sektoren die Meilensteine auf dem Pfad zur Umsetzung des Pariser Klimaziels sind. In Deutschland etwa könnte das Beschaffungswesen der öffentlichen Hand den Anfang machen und so Nachfrage schaffen und die Glaubwürdigkeit unterstreichen. Lernen entlang des Wegs und Nachjustieren wird nötig sein. Greenwashing zerstört das Vertrauen dazu.

GG: Ich würde mir einen pragmatischen Ansatz wünschen. Wenn wir erst durchdeklinieren, was grüner Wasserstoff ist, und dann auf die EU-Definition zurückfallen, werden wir lange keinen grünen Wasserstoff haben, zumindest nicht in den Mengen, wie wir ihn brauchen. Dasselbe gilt für grünen Stahl. Grundsätzlich müssen wir zwei Welten bedienen: die politische Welt, die sich in einer Transformationsqualifizierung befindet, und die Kundenwelt, in der es rein um die Tonne CO2 pro Tonne Produkt geht.

Über Germanwatch
Germanwatch ist eine unabhängige Umwelt , Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisation, die sich für eine zukunftsfähige globale Entwicklung einsetzt. Unter zukunftsfähig summiert die Organisation sozial gerecht, ökologisch verträglich und ökonomisch tragfähig. Schwerpunktthemen sind unter anderem Klimaschutz und Klimaanpassung, Unternehmensverantwortung, Sustainable Finance, Klima und Menschenrechtsfragen.

An den Standorten Bonn und Berlin arbeiten mehr als 100 haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter:innen sowie Praktikant:innen und junge Menschen, die ein Freiwilliges Ökologisches Jahr oder ein Freiwilliges Soziales Jahr im Politischen Leben bei Germanwatch absolvieren. Hinzu kommt ein wachsendes Netzwerk, das aus Engagierten, Honorarkräften und internationalen Organisationen besteht.